Wachstuchdecke

Bild - Wachstuchdecke

Die Geschichte von der Wachstuchdecke ist eins meiner ersten Experimente mit surrealem Erzählen. Ich mag die Stimmung, die in der Luft liegt. Vor allem, weil sie sich nie so völlig greifen lässt.

Wachstuchdecke

Das Gras endet bei den Brombeeren. Es sticht hart in die Kniekehlen. Der Garten wird jede Minute älter. Er ist nur noch aus Gewohnheit hier. In meiner Tasche sind trockene Schneckenhäuser. Auf dem Tisch stehen Teller mit Streuselkuchen.

Müde liegen die Krümel auf der Wachstuchdecke. Es sind Findlinge. So heißen die Steine, die in einer vergangenen Zeit in der Landschaft vergessen wurden. Die Sonne hat sie zermürbt und sie sind bröselig geworden.

Die Wachstuchdecke ist eine glatte, sonnenwarme Landschaft aus rissigen, weißen und bleichroten Karos. Sie wird auf jeder Seite des Tisches von bunten Klammern fest an ihrem Platz gehalten.

“Spiel nicht an den Klammern rum! Lass die Hände auf dem Tisch und sitz grade.

Möchte noch jemand Kaffee?”

Im Gras steht Omas Tasche. Sie ist Braun. Eigentlich ist es kein richtiges Braun. Aber wie soll man so eine Farbe sonst nennen? Wahrscheinlich ist sie immer da. So wie Oma. Und die Weiden über der Brombeerhecke. Aber ich sehe sie zum ersten Mal. Omas Tasche. Eine braune Tasche mit etwas drin. Ich schäme mich für den Gedanken und schau mich um, ob jemand gesehen hat, das ich ihn gedacht hab. Aber niemand sieht es. Also denke ich ihn weiter. Eine Tasche, die sich öffnen und schließen kann.

Die Tasche öffnet sich. In der Tasche liegt eine Wachstuchdeckenklammer. Sie ist grün und richtig glatt und ganz neu. Auch eine Hummel sitzt in der Tasche. Sie reibt sich ihre Flügel, steigt ganz langsam auf und landet auf der Wachstuchlandschaft. Sie schaut sich um, hebt wieder ab und verschwimmt mit dem Himmel über den Brombeeren.

Zwischen den alten Weidenästen taucht sie wieder auf. Einige blühen staubig vor sich hin, andere sind schon tot. Ein blühender Ast wird gerade abgeworfen. Er taumelt den Brombeeren entgegen, langsamer als die Hummel fliegt. Wenn im Garten ein Weidenast abgeworfen wird und niemand sieht hin, dann macht der Ast gar kein Geräusch.

Die Hummel schlüpft durch die neu entstandene Lücke. Es sind viele Lücken. Jetzt ist es eine mehr. Was ist dahinter? Ein Hummelkönigreich? Am Tischrand ziehen sich hängende Karos immer weiter in die Länge.

“Pass auf, ich helf dir mit dem Kuchen.

Zum allerletzten Mal: Sitz grade und hör auf, mit den Klammern zu spielen!”

Große, alte Vögel ziehen am Horizont vorbei. Es sind fremde Vögel. Sie grüßen nicht. Schauen nicht einmal nach unten. Cousinen spielen hochwertige Spiele. Ich würde die Schneckenhäuser mit ihnen teilen, aber sie verraten mir die Spielregeln nicht. Da ist ein Loch in der Wachstuchdecke. Die Hummel ist wieder da. Sie hat mir zugezwinkert. Dann ist sie in das Loch gekrabbelt.

Ein totes Nest hängt in den blütenstaubigen Weiden. Tote Federn und Eierschalen liegen drin. Wenn ich auf den Baumstamm schlage, steigt eine gelbe Staubwolke auf, tanzt im Sonnenschein und legt sich auf die Landschaft. Auf das stachlige Gras. Auf die Schneckenhäuser und auf die Wachstuchdecke. Die Karos fangen an, im Sonnenschein miteinander zu verschmelzen. Die größten Krümel sind schon zu einem Viertel eingesunken.

Es dauert lang, bis die Hummel wieder aus dem Loch heraus kommt. Vielleicht hat sie gefunden, was sie gesucht hat? Es ist noch wärmer geworden. Nur der Kaffee ist kalt. Oma fällt die Kaffeetasse aus den Händen. Sie ist innen schwarz vertrocknet. Mama bringt noch Apfelkuchen aus dem Auto.

In der Ferne hinter den Brombeeren sind Stimmen. Ich höre sie ganz deutlich. Dort ist auch die Hummel und kommt nicht wieder zurück. Die Wachstuchdecke tropft in großen Stücken auf ausgedörrtes Gras, auf orthopädische Schuhe und auf die braune Tasche. Das Loch wird immer größer.

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