Land aus Zucker
Dieser surrealistische Text ist mir vor einigen Jahren in der Badewanne passiert. Aufblitzende Andeutungen von Personen mit fließenden Konturen, viel eigenwilliges Leben, Bewegung und Bezogenheit. Ein verzaubertes, vielleicht auch verfluchtes Land, das beim Lesen Spaß und leichte Zahnschmerzen macht.
Land aus Zucker
Der Reiher aus Silberimitat fliegt schneidend schnell. Er spreizt Federn mit Spitzen aus Metall. Nähert sich der Oberfläche die sich als Himmel verkleidet hat. Die Luft ist heute von mittlerer Festigkeit. Eingekochte Geliermasse. Die Pfefferminzschwaden fallen heftig aus, rieseln in nassen Kristallen. Ein Regenbogen mit fünfzehn Schattierungen von Pfefferminz bis Kirsch greift weit aus, folgt der gleißenden Spur des Reihers und kommt zu spät.
Ich halte deine Hand und du drückst deine Fingernägel auf meine Knochen. Funken sprühen, als er seine Flügel spreizt. Kandiszucker und Gischt und heiße Funken stieben auf. Erdbeerrosa oben. Knochenweiß unten. Es reißt in die zähklebrige Oberfläche. Ein Riss der hier nicht sein darf. Dann ist der Vogel durch.
Mattes Gleißen im Abendlicht. Es fällt, schneidet und brennt. Pfefferminzduft wird versengt von diesem Gleißen, kann nicht daran kleben bleiben. Reflexe sticheln auf den Schaumklumpen, die träge Wellen halbe Meter über den Strand dir zu Füßen schieben. Gestern haben die Hände des Automatentechnikers noch Federn gespannt und Temperaturkurven eingestellt, Siedezeitpunkt und Mahlgrad abgestimmt. In seinem Brustkorb gewühlt ohne Handschuhe und ohne hinzusehen. Er sagte: “Gib es mir jetzt oder lass es bleiben.” Da hab ich ihm meinen Beutel gegeben und bin zu dir an den Strand gerannt. Ich wollte es dir sagen, ganz bestimmt. Dann haben wir Kastanien gefischt.
Es bleibt eine Feder. Sie gleißt. Sie ist das einzige was gleißt, wo nur trübe Zuckerschwaden wehen und sahnig klebrige Wellen sich siruptrübe über runde Riffe aus Kandis wälzen. Die Luft heute ist herbrau und müde. Wie eine staubige Bruchkante, die ihrer scharfen Grate noch nicht beraubt ist. Kastanientierchen drängen sich am Strand um deine Knöchel. Du achtest nicht auf deine Herde. Der Automatentechniker holt zwei von ihnen und später noch mehr. Du achtest nicht auf sie. Du heftest deinen Blick an den Himmel. Der ist heil zugewachsenes, narbenloses rosa Fleisch.
Für mich hast du hast keine Augen. Ich hebe die Feder auf. Ich schneide mich daran. Ein Riss, der hier nicht sein darf. Ein Tropfen quillt aus der Wunde. Tief unten zuckt etwas und nimmt Witterung auf. Salz dringt ein. Ich verstecke meine Hand vor der Gischt, die blind in meine Richtung leckt. Du siehst mich nicht an. Dein Blick ist mit Stecknadeln an die Stelle geheftet, wo vor einem Augenblick noch ein Reiher aus Silberimitat gewesen ist. Ich wollte es dir erzählen. Aber dann haben wir Kastanien gefischt. Später am Abend hast du in Sirup gebadet. Unter der unbewegten Oberfläche haben wir heimlich nach etwas gesucht, das salzig schmeckt.
Hinter dem Riff aus Kandiszucker buckeln die Wellen und schlagen die Schaumkronen höher. Beulige, verquollene Gebäude türmen sich auf, verschlingen sich, um für höhere Türme den Stoff zu gewinnen. Hinter der Sandbank ist das Wasser tief und rostrot. Eine Feder wippt quecksilbrig darauf. Darunter opalener Nachtglanz. Tief und dunkel. Dort wuchern die Korallen auf der ewigen Suche nach Salz. An der Luft würden sie knirschen und bröckeln, wie würden sie bröseln und ein feines kristallines Säuseln unter die Zuckerwattewolken malen! Sie strecken sich, greifen nach dem fliehenden Vogel, doch ihr Greifen bemisst sich in Jahrhunderten. Und der Riss ist schon lange wieder heil.
Tief liegen die Korallen. Weit wachsen sie und in ihren stillen, geweißelten Ärmchen hängen stahlgraue, quecksilbrige Federn. In den Felder der Korallen, wo das Meer schwarze Klumpen bildet, mit roten, Zähne zerfressenden Einschlüssen, da bemisst sich die Tiefe nicht mehr nach oben und unten. Sie misst nach dem Gewicht, das über ihr thront. Das ganz allmählich, unmerklich und gnadenos langsam in sie hineinsinkt, aufgefressen, aufgelöst und verweißelt zu Teilen dieser Tiefe wird.
Vor längerer Zeit haben die Korallen einen Wal gefangen. Liebevoll umschlossen halten ihn die weißen Verästelungen. Kosende Finger, zarte Kristalle in gesättigter Lösung, verwachsen in aufstrebenden, meterdicken Pfählen, in klebrigen Molekülketten verwoben. Durch das Gitterwerk hindurch fressen unzählige, namenlose Münder. Sie tilgen, umwachsen und verstoffwechseln in lichtloser Tiefe, langsam mit stetiger Geduld die lautlos weinenden Ungeheuer. Wie Beiwerk schmücken vereiste, süß marnierte Haie und Rochen das halbe Skelett, wie gefroren liegt das lebendig marinierte Kroppzeug ihm bei.
Durch diese Tiefen hallt eine helle Stimme. Sie singt das uralte Kinderlied von den drei Libellen im Honigglas. Manchmal trifft sie die Melodie nicht, gleitet mit zuckriger Leichtigkeit darüber und findet sie wieder. Das Mädchen mit den schlechten Zähnen findet alles wieder. Weil der Zucker es konserviert wie Bernstein die lebendige Mücke, die noch einen Tropfen Blut in sich trägt. Wie die Vögel und die Ungeheuer und alles, was krabbelt und kriecht.
Sie streichelt den Wal über die Wange und tröstet ihn. Der Trost hat Himbeeraroma. Er löst Hautstücke ab. Die rollen sich hübsch ein und schweben in der klumpigen Tiefe eine Weile herum wie Welpen, die ihren Platz noch nicht kennen. Das Mädchen pustet zart und schon bleiben sie kleben an einem weißen Kristallarm, der sich seit einigen Jahren durch den Kiefer schiebt. Dort bilden sie eine zart rosafarbene Blüte.
Da ist wieder das Gleißen. Das Mädchen mit den schlechten Zähnen sucht nach ihrer verloren gegangenen Melodie. Sie kommt dem Gleißen entgegen. Es ist hübsch, denkt sie sich. Ich will es haben, denkt sie sich. Es gehört sich nicht, denkt sie sich noch einmal und alle zusammen lachen darüber. Dann ist das Gleißen ganz nah und sie kann etwas erkennen. Es ist eine Feder die fällt. Schneller als alles, was das Mädchen jemals hat in diese Tiefen fallen sehen. Sie schneidet durch tiefe Klumpen. Versengt sirupsahnige Süße, Pfefferminzaroma und Himbeergeschmack.
Ich will es haben, denkt das Mädchen noch einmal. Da ist die Feder schon vorbei. Sie, die Rochen und Haie und Urviecher aus der Tiefe pflückt, die wenn sie wütend ist Zuckerwattewolken vom Himmel reißt und alte Klippen zu Staubzucker zerschlägt, war zu langsam. Nicht nur das. Sie hat sich geschnitten. Im Zeigefinger ihrer rechten Hand ist ein Riss, der hier nicht sein darf.
Ein Tropfen quillt aus der Wunde. Er vermischt sich mit dem Pfefferminzgeschmack. Molekül für Molekül. Mit der Zeit wird es überall zu riechen sein. Ihre Augen sind mit Stecknadeln auf den Finger der rechten Hand geheftet. Die Linke vergräbt sich in Strähnen aus ihrem geflochtenen Zopf. Das hat sie schon lange nicht mehr getan.
Nach getaner Arbeit muss der Automatentechniker seine Instrumente waschen. Es gibt keinen Schmutz in der Werkstatt. Keine gefährlichen Substanzen, korrosiven Flüssigkeiten, ätzende, brennende, scharfe Gemische, die sich in schwarzen Blasen durch Fußböden in die Tiefe fressen würden. Schwarze Nebel verbreiten und beißenden Gestank. Aber das Waschen gehört zum Ritual nach der getanen Arbeit. Er wäscht die funkelnden Bestecke und legt sie ordentlich auf ein an die Wand geschraubtes Bord, wie er es gestern getan hat und vor einer Woche und an diesem einen Tag und alle Tage davor.
Das Mädchen mit den schlechten Zähnen wirft nach ihm mit Stücken kandierter Ananas und Kaugummi. Einige bleiben in seinen Haaren kleben.
“Lass das,” knurrt er. Und sie macht weiter.
Er kann sich schon denken, warum sie ihn nach so langer Zeit besucht. Doch das ist kein Grund, seine regelmäßigen Abläufe zu unterbrechen. Irgendwann ist er fertig und setzt sich zu ihr. Da streckt sie ihre Finger aus und schaut ihn mit ihren erweiterten Pupillen an.
“Schau was passiert ist!”
Der Automatentechniker schaut. Da ist ein Riss, wo nur heiles, rosarotes, narbenloses Fleisch sein dürfte. Ein roter Tropfen quillt heraus. Er fällt durch pfefferminzgetränkte Luft in die Klüfte und Spalten, die aus der Nähe betrachtet die Holzoberfläche des Küchentischs bilden. Strömt hinein in das Innere, füllt Schründe und Kavernen und ist nie wieder wegzukriegen.
“Schöne Sauerei,” sagt der Automatentechniker.
Unter den erweiterten Pupillen sammeln sich Tränen, aus denen Kohlensäure dampft. Da nimmt er die zerbrechliche Kleine in die Arme, streicht ihr über die Haare. Mit Fingern, die andere Arbeit gewohnt sind, ordnet er ihren Zopf.
“Was hast du nur angestellt?”, sagt das Mädchen mit den schlechten Zähnen und beißt ihn ein bisschen in den Hals.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!