Stell dir vor, du gehst die Welt hinauf. Immer nach Norden, bis ganz ans Ende. Es wird kälter, bis nur noch Eis und Schnee da sind. Dann kommt der Nordpol. Dahinter geht es wieder nach Süden, die Welt hinunter. Irgendwo da oben zwischen Schneehügeln und Eisfeldern ist ein Weg. Er führt durch ein Tannendickicht, an einem mächtigen Briefkasten vorbei zu einer Handvoll verstreuter Fachwerkhäuser.
So begann vor über 10 Jahren die erste Weihnachtsgeschichte mit Mulm. Inzwischen ist daraus auch eine grandios schöne Nachtpeter-Spielkarte entstanden. Hier sind mehr Infos zur neuen Mulm-Weihanchts-Kunst-Spielkarte.

Das ist das Weihnachtsdorf. In der Schnitzwerkstatt sitzt der Zwerg Moll auf seinem Drehstuhl. Er starrt ein Stück Holz an. Der Stuhl knarzt, wenn der Zwerg sich hin dreht, und quietscht, wenn er sich wieder her dreht. Moll sucht einen Engel in dem Holz.
Er ist erst zweihundert Jahre alt, doch er hat die besondere Gabe, das Innen der Dinge zu sehen. Das Holz ist alt und widerspenstig. Doch der Zwerg sieht in der Tiefe des Holzscheits das wunderschöne Gesicht eines Lichterengels mit ernsten, gütigen Augen.
Der Engel lächelt, als er den Blick des Zwergs bemerkt. Dieser Engel ist kein Geschenk für einen Menschen, sondern für eine der Elfen aus dem Dorf. In einer uralten Tradition beschenken sich die Weihnachtsgeister am Tag vor dem Fest gegenseitig und wetteifern darum, wer die Geschenke als erster fertig hat.
Draußen tobt der wilde Nordwind und eine noch wildere Schneeballschlacht. Im Moment versuchen einige Zwerge, die Bäckerei zu stürmen. Moll will gerade zum Schnitzmesser greifen, als ihm ein eiskalter Schneeball in den Nacken klatscht. Zwei Zuckerbäckerelfen haben die Türen weit aufgerissen und bombardieren den Zwerg mit Schneebällen, bis er vom Stuhl kippt.
„Du bist zu spät, kleiner Moll“, flöten die Elfen. „Wer zu spät kommt, wird eingeseift!“
Mist, denkt er, und sucht Deckung hinter der Stuhllehne.. Vor einer Stunde hatte der Chef ihn gebeten, ins Büro zu kommen. Das hat er völlig vergessen. Der Wind treibt eine Pulverschneewolke in die Werkstatt. Der Zwerg schlüpft aus den Pantoffeln in die Filzstiefel und stürmt zwischen an Elfen vorbei auf den Hof. Die flattern hinter ihm her und lassen Schneebälle auf ihn regnen. Zwei andere Zwerge haben auf dem Dach der Holzwerkstatt ein Katapult aufgebaut. Moll winkt ihnen zu und schon holt eine riesige Schneekugel die Elfen aus der Luft.
Das Büro des Chefs ist so gemütlich, wie immer. Auf dem Schreibtisch steht seine Lieblingstasse, halb voll mit heißer Schokolade. Die Tasse war auch ein Geschenk der Weihnachtsgeister. Sie ist riesig groß und es steht „Chefbecher“ drauf. Daneben steht eine kleinere Tasse für Moll. Die Schokolade ist noch heiß. Vom Chef ist nichts zu sehen, aber die Leiter steht unter der Klappe zur Kleiderkammer.
„Hallo Moll“, tönt es von oben. „Ich hab deine Schokolade nochmal heiß gemacht. Bin gleich fertig, dann kannst du mir mit dem Bart helfen.“
Moll schlürft seine Schokolade und fragt sich, mit welchem Mantel der Chef dieses Jahr in die Städte fahren wird. In der Kleiderkammer haben sich prächtige und einfache, seltsame und wunderliche Gewänder angesammelt. Am besten gefällt dem Zwerg ein uralter, blauer Mantel mit Goldstickereien. Es ist ein leichter, weicher Stoff für einen Winter ohne Schnee. Aber herrlich und ehrwürdig. Oder die drei Mäntel, die wie mächtige Geister aussehen. Besonders der dritte, der ganz schwarze mit der Kapuze, ist zum Fürchten. Moll ist sich sicher: Wenn der Chef diesen Mantel trägt, hören ihm die Menschen zu, als ob es um ihr Leben geht.
Als der Chef die Leiter heruntersteigt, ist der Zwerg fassungslos. „Was ist das denn für ein Ding?“, sagt er und hält sich den Mund zu, als er merkt, wie respektlos das war.
Der Chef streicht sich über seinen Bart. Er ist nicht böse. Der Mantel ist ein rotes Ding aus faltigem, dünnen Stoff. Der eher erinnert mehr an Einwickelpapier, als an Samt und Brokat. Am Saum, an den Ärmeln und an der Kapuze hängt dürrer, weißer Flaum. Es sieht albern aus und Moll versteht nicht, was der Chef damit zu schaffen hat.
„Das ist mein Neues. Kennst du das etwa noch nicht? Du bist schon lange nicht mehr mit in die Städte gefahren. Hier, hilf mir mal. Der Bart gehört auch dazu.“
Er reicht Moll ein weißes Knäuel, das an einer Schur hängt. „Sei so gut, und binde mir die Schnur hinter dem Nacken zusammen. Ja, so ist es richtig.“ Seinen echten, schneeweißen Bart versteckt der Chef unter dem Mantel. Dafür hängt ihm jetzt dieses Fransending vor dem Gesicht. Er setzt die rote Kapuze auf und ruft laut: „Ho ho ho!“
„Das sieht ja fürchterlich aus! Warum hast du das an? Das bist doch gar nicht du.“ Moll ist den Tränen nahe. „Wirklich nicht? Schau nur richtig hin.“ Moll schaut richtig hin und sieht, was Innen ist. Groß und freundlich, ehrwürdig und prächtig, das ist der Chef, egal welchen Mantel er trägt.
„Aber wofür denn dieses seltsame Kostüm? Das ist doch gar nicht echt“, fragt Moll.
Der Chef erklärt es ihm. „Hast du gemerkt, wie sich die Wunschzettel Jahr für Jahr verändern?“
Moll hat es zwar gemerkt, aber einfach weiter seine Arbeit gemacht und nicht darüber nachgedacht. „Auch Nussknacker sind nicht mehr so gefragt. Die Leute verschenken heute ganz andere Sachen. Du würdest dich wundern. Die Menschen in den Städten haben schreckliche Angst vor allem, was echt ist. Meistens erkennen sie es gar nicht. Oder sie finden es verdächtig. Aber sie mögen Verpackungen. Vor allem, wenn sie so aussehen, wie etwas, das sie gut kennen. Morgen werde ich einige von ihnen treffen. Und ich möchte, dass sie mich erkennen. Wenn es dafür notwendig ist, diesen Mantel und einen falschen Bart zu tragen, dann tue ich das gerne.“
Als der Chef das sagt, klingt er gleichzeitig fröhlich und traurig. So klingt er immer, wenn er über die großen Dinge und über die Menschen spricht. Den Rest des Nachmittags hilft Moll dem Chef, den Schlitten aufzuladen. Sie bereiten die Geschirre der Rentiere für die lange Fahrt in die Städte vor. Zuletzt legt der Chef einen großen, leeren Sack auf den Schlitten.
„Warum ist der Sack leer?“, fragt Moll. „Der ist nicht leer. Dieses Jahr nehme ich nur das wichtigste Geschenk mit. Mein Herz, das ich den Menschen schenken will.“
Moll wundert sich schon wieder. Wie kann ein Herz in einem Sack liegen?
„Mein lieber Moll, das ist ein großes und seltsames Geheimnis. Der Sack wäre auch gar nicht notwendig. Aber ich sage dir ja, die Menschen achten bei Geschenken immer erst auf die Verpackung. Du wirst das alles selbst sehen. Du kommst nämlich mit.“
Dem Zwerg blieb der Mund offen stehen. Mitkommen? In die Städte? Moll würde jederzeit alles tun, worum der Chef ihn bittet. Aber er ist schon seit mindestens einhundert Jahren nicht mehr in den Städten gewesen. Er hat auch keine große Lust dazu. Die Menschen gehen ihm auf die Nerven.
Der Wintersturm hat sich gelegt. Die Schneeballschlacht ist unentschieden ausgegangen. Jetzt überlegen die Weihnachtsgeister, was sie am Abend machen wollen. Die Zwerge sind für einen Brettspielabend, aber die Elfen wollen viel lieber tanzen. Moll hält sich raus und geht bald schlafen. Er muss am nächsten Tag sehr früh aufstehen.
Am Weihnachtsmorgen fliegt der Rentierschlitten nach Süden. Es ist noch stockdunkel. Die Sonne geht erst in ein paar Stunden auf. Eingewickelt in dicke Decken sitzen der Chef und der Zwerg nebeneinander auf dem Kutschbock. Der Fahrtwind ist eiskalt und beide haben die Mützen fast bis über die Nase gezogen. Schweigend betrachten sie die vorbeiziehenden Sterne und hören auf das Lied der Glöckchen. Der Chef brummt zufrieden vor sich hin. Der Zwerg sieht unglücklich aus. Ab und zu teilen sie sich einen Schluck heißen Tee aus der Thermoskanne.
Als sie weiter nach Süden kommen, wird es wärmer. Der Schnee macht Platz für schmutzig braune Flecke. Nass und schwarz ziehen sich Autobahnen durch das Land. Als sie im ersten Morgengrauen in die Nähe der Städte kommen, steckt Moll die Nase in die Luft und schnuppert. Der Frost klirrt nicht so, wie er sollte. Der Winter riecht matschig. Schließlich lenkt der Chef den Schlitten zu einer Scheune am Feldrand, die einem freundlichen Bauern gehört.
„Er lässt immer Mandarinen für mich da,“ erzählt der Chef. „Und manchmal Schokolade. Leider hat er einen scheußlichen Geschmack was Schokolade angeht.“
In der Scheune liegt Heu für die Rentiere bereit. An einem Nagel hängt ein Beutel mit einem Netz Mandarinen und einem Schokoladenweihnachtsmann. Den überlässt der Chef stirnrunzelnd dem Zwerg. Es ist zu viel Zucker in der Schokolade, aber so schlimm wie der Chef tut, ist sie nicht.
Etwa eine Stunde marschieren sie über halb gefrorene Feldwege. Die Felder und der Wald gefallen dem Zwerg. Da liegt frischer Schnee, der schwer an Molls Stiefeln klebt. Die Luft riecht nass und frisch. Dann stehen sie an einem Graben, dahinter ist Straße und dann beginnt die Stadt. Das Laternenlicht glitzert auf dem nassen Asphalt. Da stehen die ersten Häuser. Moll sucht nach dem Schnee, aber es ist keiner da. Auf den Wegen, an den Straßenrändern, unter den Hecken und vor den Haustüren liegt nur ein grauer, eisiger Brei.
„Igitt! Was ist das für ein Zeug?“, fragt der Zwerg fröstelnd.
„Das ist der Mulm,“ sagt der Chef. „ Der ist hier überall. In den Städten ist der Winter kaputt gegangen.“
Sie gehen den gepflasterten Fußweg entlang. Moll schaut auf die Mischung aus zertrampeltem Schnee, Schmodder und Straßendreck. Nasse Kälte kriecht in die Stiefel und unter das wärmste Unterhemd, bis man sich nur eines wünscht: Gleich wieder nach Hause gehen. Nichts wünscht Moll sich im Augenblick mehr. Aber der Chef geht stadteinwärts und so tut Moll das auch.
Sie kommen an einem Baumarkt vorbei, dort ist eine Straßenbahnhaltestelle. Es ist immer noch kaum hell, doch die erste Bahn steht schon auf den Gleisen. Im Wagen ist es stickig, aber zumindest bleibt der Mulm draußen. Dem Zwerg fallen die Augen zu. Als er wieder aufwacht, ruckelt die Straßenbahn über vereiste Gleise.
Der Wagen füllt sich mit Menschen. Dicke Figuren, eingehüllt in viele wärmende Schichten. Sie verstecken ihre Augen hinter Wollmützen und die Münder hinter Schals. Viele haben Taschen, die stellen sie sich auf die Knie und halten sich daran fest. Moll ist verwirrt. Er hat die Menschen anders in Erinnerung. Nicht so müde. Der Zwerg hüpft von seinem Sitz, um die Leute aus der Nähe zu betrachten. Menschen können die Weihnachtsgeister nicht sehen. Der Chef hat einmal erzählt, dass sie die Geister eigentlich schon sehen könnten, sie tun es einfach nicht. Schon damals fand Moll, dass mit den Menschen irgendwas nicht ganz richtig war. Jetzt findet er es wieder.
Allem Anschein nach ist es verboten, einen anderen Menschen anzufassen. Alle achten darauf und halten hübsch Abstand. Irgendwann sind die Doppelsitze besetzt. Dann müssen Zwei nebeneinander sitzen. Viele benutzen ihre Taschen, um den freien Sitz neben sich zu blockieren. Doch als es nur noch Taschensitze gibt, müssen sie die auch hergeben. Einige Neueinsteiger bleiben lieber stehen. Aber egal wie eng es wird, nie berührt einer den anderen. Der Zwerg hat immer genug Platz, um zwischen den Fahrgästen hindurch zu schlüpfen.
Dann bemerkt Moll das Starren. Sie starren geradeaus, zur Seite oder aus dem Fenster. Jeder hat sich etwas gesucht, was er anstarren kann. Die Glücklichsten haben ein Buch. Es scheint das Wichtigste zu sein, das keiner einem anderen ins Gesicht schaut. Moll klettert an den Stuhllehnen und an den Haltestangen hoch, um sich die Gesichter aus der Nähe anzusehen. Zuerst denkt er, es könnte ein Spiel sein. Vielleicht eine lustige alte Menschentradition. Aber das kann nicht sein. Sie sehen nicht fröhlich aus. Eher als hätten sie Zahnschmerzen. Und alle machen ein Gesicht, als wäre ihnen furchtbar kalt.
„Warum sind die so komisch?“, fragt er den Chef, als er seine Runde beendet hat.
Der Chef sieht sehr ernst aus, mit seinen Gedanken weit weg. So erlebt ihn Moll zum ersten Mal. „Schau genau hin, mein guter Zwerg.“
Da schaut Moll die eingemummten Gestalten so an, dass er das Innen sehen kann. Und dann erschrickt er. Die Herzen der Leute sind bis oben hin voll mit Mulm. Der kalte Brei füllt sie aus bis oben hin. Kein Wunder, dass ihnen kalt ist, fährt es Moll durch den Kopf! Ihn schaudert ja schon, wenn er das widerliche Zeug nur in den Stiefeln hat. Er will sich gar nicht vorstellen, wie sich diese Leute fühlen müssen. Bei manchen ist es nicht so schlimm, vor allem bei den Kindern. Aber auch bei ihnen fängt es schon an. Und bevor sie groß sind, sie die Herzen der meisten schon bis zum Überlaufen voll.
„Da muss man doch etwas tun!“, klagt Moll, der dieses Elend gar nicht mit ansehen kann.
„Deshalb bin ich hier,“ antwortet der Chef und sieht dabei gar nicht traurig aus.
An der nächsten Haltestelle steigt ein junger Mann ein, der einen hölzernen Koffer trägt. Er trägt zerschlissene Jeans und Halbschuhe, in die bestimmt schon der Matsch gelaufen ist. Aber er friert nicht. Durch ein Wunder ist der Platz gegenüber dem Chef noch frei. Dort setzt der junge Mann sich hin.
„Was bist du denn für einer?“, fragt er und betrachtet Moll neugierig. „
Ein Zwerg natürlich. Ich bin ein Weihnachtsgeist. Oder sehe ich aus, wie eine Meerjungfrau?“
Erst danach fällt Moll auf, dass der junge Mann ihn sehen kann.
„Ehrlich? Das ist ja verrückt!“, ruft der junge Mann. „Ich hab eine ganze Kiste mit Geschichten über Weihnachtsgeister.“
Moll will wissen, warum der Koffer voller Geschichten ist. Er erfährt, dass der junge Mann ein Künstler ist. Das heißt, er wäre gern einer. Ein richtiger Schriftsteller. Seine Geschichten über die Weihnachtsgeister will er auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen. Der Holzkoffer ist sein Bauchladen.
„Und die Leute lesen Geschichten über uns?“ „Das hoffe ich doch. Immerhin hab ich mein Studium geschmissen, damit ich Zeit zum schreiben habe.“
Der junge Mann sagt das sehr überzeugt. Moll schaut ihn lange an. In seinem Innen findet er fast keinen Mulm. Nur ein Tröpfchen. Aber auch nur sehr wenig Überzeugung. Dafür sind Sorgen da. Schwere und dunkle. Na, hoffentlich hast du Glück, denkt Moll. Irgendwie gefällt ihm der Junge mit seinen durchweichten Halbschuhen.
An der nächsten Haltestelle steigen sie aus. Der Weihnachtsmarkt kommt Moll vor, wie eine Stadt für sich. Eine Stadt aus Holzhütten, die ihn ganz entfernt an sein Dorf zu Hause erinnert. Doch hier liegt überall Mulm. Moll fragt sich, ob der wirklich vom Winter kommt oder ob er vielleicht aus den Menschenherzen tropft, die von dem Zeug überlaufen.
Der Chef hat ihm eine Aufgabe gegeben. Er soll Ausschau nach einer stillen Ecke halten, wo sie sich den Tag über bleiben können. Doch jedes Stück Boden ist schon von Leuten besetzt, die Dinge verkaufen. Keiner hat das kleinste Plätzchen übrig. An einigen Ecken sitzen Männer mit einem ähnlichen Mantel, wie ihn der Chef anhat, und mit genau so einem falschen Bart. Aus großen Säcken verteilen sie bunte Päckchen an die wenigen Kinder, die früh schon hier sind. Dauernd rufen sie: „Ho ho ho!“ und essen Bratwurst zum Frühstück.
Moll entdeckt den Chef, der doch noch eine passende Ecke gefunden hat. An einem Marktende ist zwischen zwei Hütten eine Lücke geblieben. Jemand hat dort leere Holzkisten gestapelt, auf denen man ganz gut sitzen kann. Der Chef holt zwei Decken aus dem Sack und so machen sie es sich gemütlich. Links gibt es gebrannte Nüsse und süße Mandeln. Der Duft erinnert Moll an die Zuckerbäckerei der Elfen. Vor der anderen Hütte steht ein derber Holztisch. Darüber blinkt ein elektrischer Weihnachtsstern und der bunte Schriftzug „Frau Käthes Punschhütte“.
„Frau Käthe ist ein Schatz,“ erzählt der Chef dem Zwerg. „Wir kennen uns schon ewig. Ihr Punsch ist ein echtes Weihnachtswunder.“
Frau Käthe ist groß, warm und freundlich. Sie gehört nicht zu den Menschen, die Zwerge sehen. Das hindert sie aber nicht daran, dem Chef zwei große, fürchterlich heiße Becher einzuschenken. Die Zwei setzen sich eng nebeneinander auf ihre Kisten. Bei seinem großen Chef wird dem kleinen Zwerg wieder richtig warm.
Es kommen Menschen an diesem Tag. Nicht so viele, wie zu den anderen Männern mit roten Mänteln, weil die an den besseren Ecken sitzen. Aber die Leute, die kommen, bleiben lange sitzen. Der Chef hat eine dritte Kiste hingestellt und noch eine Decke hingelegt. Den meisten ist kalt und Moll weiß auch, warum.
Viele fangen an, zu erzählen. Von ihren Kindern oder ihren Eltern, über die Nachbarn oder über die Arbeit. Manche Geschichten sind schlimm. Andere sind einfach nur so. Am Ende erzählen alle vom Mulm. Von der großen Kälte innen drin, die in jeden Winkel kriecht und das ganze Herz ausfüllt, bis es gar nicht mehr warm werden kann.
Dann nimmt der Chef seinen Sack und sagt: „Wenn du willst, schenke dir ein Stück von meinem Herz. Das ist so groß, dass der Mulm es nicht voll machen kann. Und so warm, dass er es nicht erfrieren kann.“
Das ist wahr, denkt Moll. Das Herz des Chefs ist eine ganz ungewöhnliche Angelegenheit.
Viele schauen erst auf den Chef in seinem roten Mantel, dann auf den Sack und dann wieder auf den Chef mit dem roten Mantel. Sie machen ein säuerliches Gesicht und gehen weiter. Aber einige bleiben und fragen, wie das gehen soll. Dann sagt er ihnen, dass sie ihre Geschichte einfach in den Sack erzählen sollen.
Die Leute wundern sich, aber dann versuchen sie es und erleben etwas sehr seltsames. Sie stecken den Kopf in den Sack und beginnen, zu erzählen. Ein Stück nach dem anderen kommt die Geschichte heraus. Immer mehr, aus versteckten Ecken und aus geheimen Winkeln. Mit den Geschichten kommt der Mulm. Stück für Stück fällt er platschend in den Sack. Und am Ende wird den Menschen wieder warm.
Die Leute auf dem Markt tun so, als würden sie nichts bemerken. Vielleicht, denkt Moll, ist das wie mit den Zwergen. Vielleicht glauben sie wirklich, dass sie nicht sehen, dass in dieser Ecke des Marktplatzes hin und wieder ein Wunder geschieht.
Inzwischen ist es hell geworden und dann nach einiger Zeit wieder dunkel. Einmal hat Moll den Künstler gesehen, wie er sich mit seinem Bauchladen durch die Menschenmenge schob. Gerade verabschiedet sich der Chef von einer älteren Dame mit Hund. Eine warme Träne leuchtet in ihrem Auge wie ein Edelstein. Die Dame bewahrt sie auf, weil sie sehr kostbar ist. Sie winkt noch einmal und macht sich auf ihren Weg.
„Das ist die Letzte. Mehr werden nicht kommen,“ erklärt der Chef.
Der Markt ist fast leer. Erst jetzt bemerkt Moll, dass die meisten Hütten ihre Beleuchtung ausgeschaltet und die hölzernen Läden geschlossen haben. Frau Käthes Punschhütte gehört zu den letzten, die noch offen sind. Moll legt die Decken zusammen und bereitet alles für den Heimweg vor. Der Chef schaut ihn an, als würde er an etwas denken, über das er gerade nicht reden will. Inzwischen schneit es große, samtweiche Schneeflocken, die sogar einen Augenblick liegen bleiben.
„Noch ein Glas Punsch vor der Heimfahrt?“, fragt der Chef.
Moll gefällt die Idee. „Noch ein bisschen Weihnachtswunder? Ich denke, das haben wir uns verdient.“
Er klettert auf den Holztisch und der Chef stellt drei Becher ab.
Bevor Moll fragen kann, für wen der dritte ist, winkt der Chef noch jemanden heran. „Na komm. Wärm dich auf!“
Der Zwerg schaut sich um. Da ist der Künstler mit dem Bauchladen. Ein Blick auf die durchgeweichten Heftchen zeigen, dass er so gut wie nichts verkauft hat.
„Kein großer Erfolg?“, fragt der Chef und schiebt ihm den Becher rüber.
Der Künstler ist für die Gesellschaft mindestens ebenso dankbar wie für den fürchterlich heißen Punsch. Er schüttelt den Kopf und sagt nichts weiter.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte der Chef weiter.
„Ich weiß nicht. Ich kann mein Zimmer nicht bezahlen. Student bin ich auch nicht mehr. Ich glaub, ich hab es einfach nur versaut.“ Dann erzählt er weiter. „Ich hab einfach immer so viele Ideen. Und ich platze, wenn ich nichts damit mache! Mit dem Geld, das mir meine Eltern fürs Studium gegeben haben, hab ich die Weihnachtsgeschichten drucken lassen. Ich hab noch achte Kisten davon zu Hause. Und fast keine verkauft. Die kann ich jetzt alle wegwerfen. Es ist nicht mal genug für die Fahrkarte nach Hause übrig.“
All diese Traurigkeit geht Moll furchtbar auf die Nerven. Der Junge könnte sich wirklich ein bisschen zusammenreißen. Dann schaut er nach Innen und findet dort ein heillos verwirrtes Knäuel. Da sind so viele Geschichten, dass es gar kein Wunder ist, wenn alles durcheinander gerät. Moll erinnert sich wieder daran, wie schwierig es am Anfang ist, das Innen und das Außen zu unterscheiden. Es ist so anstrengend, wenn man immer alles auf einmal sieht.
Moll weiß genau, wie das ist. Es brauchte die unendliche Geduld des alten Zwergenmeisters Rettich, damit aus dem kleinen Tunichtgut, der nie etwas zu Ende bringt, Moll der Schnitzer werden konnte, der in einem alten Holzscheit einen Engel findet und ihn zum Lächeln bringt. Da weiß Moll auch endlich, was dem jungen Mann eigentlich fehlt. Und ihm kommt der starke Verdacht, dass der Chef das von Anfang an geplant hat. Am liebsten würde Moll ihn mit matschigen Schneebällen bewerfen! Aber wenn er jetzt bleibt und nicht zurück ins Weihnachtsdorf fährt, ist das seine eigene Entscheidung, sein eigenes Geschenk. Moll weiß genau, dass der Chef kein Wort sagen würde, wenn der Zwerg jetzt einfach wieder heim fahren würde. Ein Teil von ihm, ein ziemlich großer, wünscht sich das mehr als alles andere. Stattdessen zieht er den jungen Künstler am Ärmel.
„Weißt du was? Du brauchst einen Lehrer. Sonst wird das nichts. Ich bleibe bei dir und helfe dir.“
Der Chef lächelt Moll zu. Aber der Zwerg ignoriert ihn. Er ist noch sauer.
Dem jungen Künstler bleibt der Mund offen stehen. „Wie meinst du das? Du willst mir helfen? Beim Geschichten schreiben? Ein echter Weihnachtsgeist der mir beim Schreiben hilft? Das ist ja Wahnsinn! Dann verkaufen sich die Geschichten mit Sicherheit! Und ich muss nicht bei meinen Eltern wohnen. Aber ich hab grad gar kein Geld mehr. Weißt du vielleicht, wie man einen versteckten Schatz finden kann?“
„Du meine Güte!“, stöhnt der Zwerg. „Was soll ich mit dem bloß anstellen?“
Dann dreht er sich um und tippt den jungen Mann mit einem harten Finger vor die Stirn. „Was ich meine? Ich meine, du sollst dir eine Arbeit suchen. Jetzt und hier. Frag Frau Käthe, ob sie eine Aushilfe braucht.“
„Wie? Einfach so nach Arbeit fragen? Jetzt hier?“
Moll bedenkt ihn mit einem Blick, der jeden Einwand verstummen lässt. Dem Chef ruft er zu: „Jetzt fahr endlich nach Hause. Du hast doch alles erledigt. Wir kommen schon zu Recht. Und wir sehen uns dann in einem Jahr!“
Der Chef nickt. Sein Lächeln ist warm, fröhlich und schrecklich geheimnisvoll. Moll ist trotzdem sauer.
„Wir sehen uns in einem Jahr“, sagt der Chef zu seinem treuen Zwerg. Er nickt auch dem Künstler zum Abschied zu. Dann geht er durch die Hütten davon. Moll klettert auf die Schulter des jungen Mannes, der immer noch unentschlossen herumsteht. Der Zwerg zeigt auf Frau Käthe, die gerade dabei ist, die Läden zu schließen.
„Da geht’s lang!“ Er zieht die Künstlernase in die richtige Richtung und wischt sich eine Schneeflocke von der Stirn. Es ist kälter geworden, denkt er, vielleicht klirrt heute Nacht doch noch der Frost.